Die Schematherapie ist ein innovatives Therapieverfahren, welches Ansätze aus unterschiedlichen traditionellen Therapieschulen integriert und weiterentwickelt hat.
Ein sogenanntes Schema entsteht vor dem Hintergrund einschneidender und/oder wiederholter Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Entscheidend ist, wie erste zentrale Bezugspersonen mit kindlichen (seelisch-emotionalen) Grundbedürfnissen nach sicherer Bindung, nährender Fürsorge, Grenzen und Orientierung, Autonomie und Spiel umgegangen sind.
Man kann es sich vorstellen wie eine Art "Programm", das in vielen unterschiedlichen Situationen anspringt und (meist für die Person unbewusst) dazu führt, dass wir die Situation in einer bestimmten Weise wahrnehmen und interpretieren, uns in einer bestimmten Weise fühlen und verhalten und wie wir zu anderen Menschen in Beziehung treten.
Jeder Mensch hat solche Schemata. Bei vielen Menschen sind sie so ausgestaltet, dass sie einer befriedigenden Lebensführung und der Erreichung persönlicher Lebensziele nicht im Wege stehen. Bei einigen Menschen sind sie jedoch eher unflexibel, lassen kaum Spielraum zu, sich einmal anders zu verhalten als es das Schema "gebietet".
Nehmen wir zum Beispiel einen 42-jährigen Mann, nennen wir ihn Kai, der in seiner Kindheit immer wieder von wichtigen Bezugspersonen in der einen oder anderen Weise verlassen worden ist.
Kais Mutter hat die Familie verlassen, woraufhin der Vater häufig überfordert gewesen ist und seinen Sohn regelmäßig über längere Zeit in wechselnde Betreuungen gegeben hat. Mal war Kai bei seiner Oma, mal bei den Nachbarn, mal in der Obhut von Babysittern. Nach der Grundschulzeit zog Kais bester Freund weg.
Ein wesentliches emotionales Grundbedürfnis des Menschen ist das nach sicherer Bindung. Es ist das Bedürfnis des Kindes danach, dass wichtige Bezugspersonen sicher und konstant erreichbar sind und zuverlässig und liebevoll für das Kind sorgen.
In Kais Kindheit fand eine schwerwiegende Frustration dieses Grundbedürfnisses statt. Dies führte in seinem Fall zu der Entwicklung des Schemas Verlassenheit.
Was bedeutet es für Kai, mit diesem Schema zu leben? Als Erwachsener macht er die leidvolle Erfahrung, dass er in den verschiedensten Situationen immer wieder panische Angst vor Verlust und Verlassenheit erlebt, dass er wenn er Menschen näher kennenlernt oder eine Beziehung einzugehen versucht, im Grunde von Anfang nichts anderes erwartet, als dass sie ihn irgendwann allein lassen werden. Er kann kein Vertrauen in die Stabilität einer Beziehung entwickeln. Er lebt in ständiger Angst und verfällt in tiefe Depressionen, wenn er tatsächlich einen Verlust erlebt.
Nicht nur bezüglich des Schemas Verlassenheit, auch hinsichtlich aller anderen Schemata ist davon auszugehen, dass sie sich entwickelt haben, weil zentrale Grundbedürfnisse innerhalb der Entwicklung nicht oder nicht ausreichend erfüllt worden sind. Nicht immer müssen Erfahrungen vorliegen, die offenkundig traumatisch sind wie die im Beispiel von Kai geschilderten. Es kann auch eine mangelnde Bedürfnisbefriedigung vorliegen, wenn es einer Person in Kindheit und Jugend "an nichts gemangelt" hat und die Eltern "alles Erdenkliche" für sie getan haben. In diesem Falle wäre unter Umständen das Bedürfnis nach Autonomie nicht ausreichend erfüllt worden - was natürlich andere (negative) Erlebnisweisen als die im Beispiel von Kai zur Folge haben würde.
Wenn ein Schema so geartet ist, dass es einen Menschen in der Erreichung seiner persönlichen Ziele und Erfüllung seiner Bedürfnisse als Erwachsener behindert, kann man es als "Lebensfalle" bezeichnen. Auch deshalb, weil sie dazu neigen, sich sozusagen selbst aufrechtzuerhalten.
Diese Lebensfallen rufen wie Kais Beispiel zeigt, sehr schmerzvolle Gefühle hervor, die irgendwie bewältigt werden müssen.
Die Schematherapie geht davon aus, dass es grundsätzlich drei Arten der Bewältigung der aus einem Schema erwachsenden negativen Gefühle gibt: Sich-Fügen (Ergeben), Vermeidung (Flucht) und Überkompensation (Gegenangriff). Oft überwiegt im Einzelfall eine dieser drei Strategien, sie können aber auch alle eine Rolle spielen.
Die negativen Gefühle, die aus dem aktivierten Verlassenheitsschema entstehen, würden durch Sich-Fügen bewältigt, wenn Kai dem Schema unbewusst nachgäbe, es unbewusst als Wahrheit hinnehmen würde ("So ist es eben"). Er würde dann als Erwachsener immer wieder die Kindheitssituationen des Verlassenwerdens wiederholen, die das Schema hervorgerufen haben. Dies zum Beispiel, indem er immer wieder Beziehungen mit Partnerinnen eingeht, die höchstwahrscheinlich wenig Stabilität und Sicherheit bieten können, weil sie zum Beispiel bereits anderweitig gebunden oder emotional instabil sind.
Eine Bewältigung durch Vermeidung läge vor, wenn Kai sich gänzlich von potentiellen Partnerinnen distanzieren würde, keine vertrauten engen Beziehungen eingehen würde. Möglich wäre innerhalb dieser Bewältigungsstrategie auch, dass Kai regelmäßig zu viel Alkohol trinkt oder andere Drogen konsumiert, sich exzessiv in die Arbeit stürzt oder auf andere Weise eine Konfrontation mit seinen Gefühlen verhindert, wenn er alleine ist.
Die Bewältigung durch Überkompensation bestünde im Falle von Kai darin, dass er Beziehungen selbst nach kürzester Zeit und bei geringstem Anlass beendet, um damit der Partnerin sozusagen (unbewusst) zuvorzukommen.
Oben habe ich das Schema als Programm bezeichnet, das in bestimmten Situationen anspringt. Dieses Wort ist bewusst gewählt, um zu verdeutlichen, dass es den meisten Menschen zunächst nicht möglich ist, diese Prozesse bewusst zu steuern oder zu kontrollieren, es geschieht einfach mit ihnen. Unterschiedliche, zum Teil extreme Gefühle werden aktiviert, die den Betroffenen (und sein Umfeld) sozusagen überfallen.
Manchmal ist es, als seien unterschiedliche Teile oder Anteile der Person zu unterschiedlichen Zeitpunkten aktiv, was zum Teil auch rasch wechseln kann.
Diese Anteile werden innerhalb der Schematherapie Modi (Einzahl: Modus) genannt und repräsentieren einerseits die aus der ursprünglichen (kindlichen) Situation "übrig gebliebenen" oder "mitgenommenen" Erfahrungen, andererseits das gesunde, erwachsene Ich, den gesunden Erwachsenen. Der gesunde erwachsene Anteil geht selbstfürsorglich mit sich um, ohne sich oder andere Menschen zu vereletzen. Er beinhaltet Verständnis und Mitgefühl für die eigene Geschichte, schlägt einen gesunden Mittelweg vor zwischen milder Nachsicht und realistischen Anforderungen beim Erreichen von Zielen.
Wenn die Anforderungen besonders hoch und strikt sind oder das Erleben von Selbstabwertungen geprägt ist, sind häufig sogenannte Elternmodi aktiv. Diese beinhalten Erfahrungen und Botschaften, die Menschen von wichtigen früheren Bezugspersonen, häufig sind dies eben die Eltern, übernommen haben.
Schwierig ist dies, wenn es sehr fordernde oder strafende Haltungen sind, die verinnerlicht wurden, da diese negative Selbstwahrnehmungen und mangelnde Selbstfürsorge bedingen können (fordernder oder strafender Elternteil).
Der fordernde oder strafende Modus oder bestimmte äußere Umstände (z.B. eine Trennung) können schmerzhafte Gefühle hervorrufen, die ihren Ursprung schon in der Kindheit haben, weshalb sie Kindmodi genannt werden. Sie äußern sich zum Beispiel durch extreme Trauer, Angst oder Einsamkeit (vulnerables Kind) oder aber schier unbändiger Wut (wütendes Kind).
Da dies sehr schmerzvoll ist, hat sich auch (mindestens) ein Bewältigungsmodus entwickelt, der davor schützen soll, dass die Gefühle eines verletzlichen Kindes empfunden werden, zum Beispiel indem er eher kühl und distanziert mit anderen Menschen umgeht und sie nicht an sich heranlässt (distanzierter Beschützer) oder das Gegenüber offen aggressiv, vielleicht auch gewalttätig, angreift (aggressiver Beschützer).
Bewältigungsmodi tun oft zunächst lange guten Dienst, indem sie schmerzhafte Gefühle fernhalten. So werden sie manchmal quasi zum "Autopiloten" oder "Default Modus". Man bekommt gar nicht mit, dass der Modus läuft. Langfristig können Bewältigungsmodi neben ihrer Schutzfunktion auch hohe Kosten verursachen - zum Beispiel verhindern, dass befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen entstehen.
Die Schematherapie begleitet Menschen dabei, die hier skizzierten Strukturen und ihre individuellen Hintergründe bei sich selbst zu ergründen und unterstützt sie innerhalb einer konstanten und sicheren therapeutischen Beziehung darin, die Lebensfallen Schritt für Schritt unter Kontrolle zu bringen und sich auch unabhängig von ihnen entsprechend der persönlichen Lebensziele und Wünsche verhalten zu können. Oder, wie Jeffrey Young, der Begründer der Schematherapie, es sagt: das Leben neu zu erfinden.
Dieser Weg ist nicht einfach, stellenweise sehr schmerzvoll, aber langfristig hilft er dem Leben und den Menschen offener zu begegnen und die Lebensqualität zu steigern. Innerhalb einer Schematherapie geht man diesen schwierigen Weg niemals alleine, die therapeutische Beziehung bietet sicheren und zuverlässigen Halt.